Ursprünglich auf Spanisch veröffentlicht: «El procés en Mauthausen o la república de Enric Marco». Daniel Gascón. Letras libres.
6 Mai 2019
Enric Marco dient der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung als Vorbild: Er gab sich als Opfer aus, das er nie war, und bemächtigte sich der Erfahrung der wirklichen Opfer.
Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, der sog. Prozess, hat oft auf Analogien zurückgegriffen. Im Laufe der Jahre wurden viele Vergleiche benutzt und wiederverwendet. Quebec und Schottland waren eine Zeitlang die bevorzugten Modelle. Später redete man von der Unabhängigkeit Sloweniens und dem albanischen Weg. Doch was am meisten ins Auge stach, war die Art und Weise, wie sie das ihrem Opferstatus geschuldete Ansehen nutzte. Die angebliche Unterdrückung des Unabhängigkeitsstrebens durch den Zentralstaat, die ebenso als Anwendung des Rechtsstaates beschrieben werden kann, wurde als eine Schande dargestellt, die den großen Fällen von Willkür und Machtmissbrauch in Vergangenheit und Gegenwart glich.
Spanien mit einem Regierungssystem wie dem der Türkei zu vergleichen oder es als Diktatur hinzustellen, ist barer Unsinn und nicht einmal geeignet, jene Sorte von Korrespondenten hinters Licht zu führen, die die New York Times in malerische Länder schickt, in denen ihrer Ansicht nach nie etwas Bedeutsames geschehen wird. Die Angaben zur Beschaffenheit der spanischen Demokratie – unvollkommen, verbesserungswürdig, eine, die stets überwacht und verbessert werden muss – sind äußerst zahlreich und leicht zugänglich. Wenn jemand Spanien als frankistisches Regime bezeichnet, muss man ihn nicht widerlegen: Es ist zwecklos, mit jemandem zu streiten, der sagt, der Mensch sei nie auf dem Mond gewesen und alles sei in einer Sommernacht in [der spanischen Halbwüste] Bardenas gedreht worden. Das Leben ist zu kurz, um sich mit Flachweltlern auseinanderzusetzen.
Derartige Vorwürfe beleidigen die Intelligenz. Doch die Identifikation mit den Opfern erweist sich als eine noch größere Beleidigung, mag sie auch derselben moralischen Überheblichkeit entspringen. Zu einem gewissen Grad ist sie ein häufiger Bestandteil des Nationalismus: Eine Niederlage ruft eine stärkere Erinnerung hervor als ein Sieg. Das haben die Serben mit dem Kosovo gezeigt, die Franzosen mit Alesia, die Südstaatler mit Gettysburg. Es handelt sich um eine historische Demütigung, und die Nationalisten glauben, diese in der Zukunft ausbügeln zu können. Die Zynischeren unter ihnen wissen, dass dies unmöglich ist, aber sie wissen auch, dass sich das Versprechen einer Wiedergutmachung auszahlen kann.
Und dann nehmen die Opfer heutzutage einen hohen moralischen Rang ein. Wie [der bulgarisch-französische Denker] Todorov sagte: „Niemand möchte Opfer sein, doch jeder möchte eines gewesen sein.“ Ob der Opferstatus zu Recht oder zu Unrecht besteht, spielt dabei die geringste Rolle: Das Entscheidende sind die Wahrnehmungen und die Gefühle.
Alles ist eine Frage des Grades, und in diesem Fall ist der Abstand zwischen den Vergleichsgrößen besonders augenfällig. Niemals war es einfacher, ein Held zu sein. Niemals war es billiger, ein Opfer zu sein. Es wird nur dann ungemütlich, wenn ein wirkliches Opfer da ist, das dir widersprechen kann: Dann gehört viel Unverfrorenheit dazu, ihm in die Augen zu schauen. Doch oftmals sind die wahren Opfer gestorben, die Überlebenden sind mit anderen Dingen beschäftigt, und der beste Betrüger ist jener, der an seine eigenen Lügen glaubt.
Dennoch war es alles andere als ersprießlich, als die [zivile Organisation der katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter] ANC im ukrainischen Maidan eine Entsprechung zu ihrem Aufstand gegen eine liberale Demokratie sah. Es verblüffte, dass der [katalanische] Abgeordnete [des spanischen Parlaments] Tardà die in Untersuchungshaft sitzenden Führer der Unabhängigkeitsbewegung mit Mandela und Ghandi verglich. Und zu sehen, wie Unabhängigkeitsbefürworter bei einer Ehrung des Dichters Antonio Machado altgediente Republikaner Faschisten nannten, löste Unbehagen aus. Das israelische Außenministerium beanstandete, dass die damalige Sprecherin der katalanischen Regierung, Elsa Artadi, einen Satz aus dem Tagebuch der Anne Frank benutzte, um die Lage der politischen Gefangenen zu kommentieren. Und das Martin Luther King Institut forderte den Präsidenten der katalanischen Regierung, Quim Torra, auf, die Gestalt des Verteidigers der Bürgerrechte nicht weiter für seine Zwecke zu nutzen. Die pyrotechnische Abteilung des Separatismus ist wie einer von diesen Typen, die vor Beginn eines Fußballendspieles nackt auf den Rasen hüpfen. Doch die Separatisten stören keine Weltmeisterschaft, stattdessen versuchen sie, sich den Schmerz und das Heldentum anderer Menschen anzumaßen.
Sich darüber zu empören, dass eine Ehrung der Naziopfer in Mauthausen zu Propagandazwecken genutzt wurde [eine Vertreterin des katalanischen Justizministeriums hatte Spanien dort am 5. Mai dieses Jahres als demokratischen Trauerfall bezeichnet], fällt leicht. Eine solche Schamlosigkeit kann verblüffen. Und der anscheinende taktische Fehler kann verstören. Wie [der galicische Journalist] Manuel Jabois schrieb, nimmt sich jede Klage neben dem Holocaust klein aus, sogar die [fünfzehnmonatige] Untersuchungshaft von Raúl Romeva [ein Mitglied des EU-Parlaments und ehemaliger „Außenminister“ der von Madrid abgesetzten katalanischen Regierung]. Selbst von einem streng nationalistischen Standpunkt aus ist der Bezug auf Mauthausen ungerecht: Wenn man die Erinnerung an das Leid der Naziopfer auf eine propagandistische Rechtfertigung [des Unabhängigkeitskampfes] reduziert, würdigt man das Leben, die Anstrengung und des Leiden vieler Katalanen, die gegen tatsächliche – und nicht nur eingebildete – Akte der Willkür und Gewalt kämpften, herab. Die Klugheit verbietet es, das Spektakel [in Mauthausen] mit all dem, was es einschließt, über die Würde des Menschen zu stellen.
Dennoch wird uns bei dieser Gelegenheit ein wertvoller Schlüssel in die Hand gelegt. Vor einigen Jahren, als die „historische Erinnerung“ [an die Verbrechen Francos während des Bürgerkrieges] in Mode war, ereignete sich der Skandal um Enric Marco. Marco, Vorsitzender des Freundeskreises von Mauthausen, erzählte jahrelang, er sei Insasse eines Konzentrationslagers gewesen. Er hatte seine leidvollen Erfahrungen in Schulen und vor dem spanischen Parlament geschildert. Seine Tragödie hatte Volksvertreter zu Tränen gerührt. Man rief Marco, um vor dem spanischen Regierungschef und dem österreichischen Bundeskanzler zu sprechen sowie – anlässlich einer Veranstaltung zur Erinnerung an die Befreiung Mauthausens – vor Dutzenden ehemaliger Deportierter.
Der Historiker Benito Bermejo Sánchez wies auf die Widersprüche in Marcos Erzählungen hin, forschte nach und bewies, dass seine Gefangenschaft frei erfunden war. Marco war nie Insasse eines Konzentrationslagers gewesen. Die Lebensgeschichte Marcos, die Javier Cercas später im Buch Der falsche Überlebende erzählte, war eine Reihe von Lügen, die er mit der Zeit abwandelte. Er war ein Fälscher seiner Lebensgeschichte, ein Narzisst, der an seine eigenen Schwindeleien glaubte und die Industrie der historischen Erinnerung ausnutzte, ein Schelm und eine „fahrende Lüge“.
Enric Marco dient der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung als Vorbild: Er gab sich als Opfer aus, das er nie war, und bemächtigte sich der Erfahrung der wirklichen Opfer. Das Beispiel, das der Separatismus bei Gedenkfeiern heranziehen sollte, ist weder ein mittelalterlicher Caudillo wie Wilfried der Haarige, den der ehemalige Regierungschef Artur Mas „symbolischer Vater des katalanischen Vaterlandes“ nannte, noch Führer der Bürgerrechtsbewegung, deren Beispiel nicht zu einem ethnolinguistisch geprägten Aufstand der Reichen gegen die Armen passt, sondern Enric Marco, der Betrüger im Kitschformat. Die Katalanische Republik sollte ein Insigne mit seinem Namen herausgeben: Die Republik existiert nicht, und Marco war nicht in den Lagern. Doch zu diesem Zeitpunkt werden wir uns nicht mit Details aufhalten.