Auf Deutsch Cover story Voices From Spain

Der große Verrat

Photo by Kyle Glenn on Unsplash

Ursprünglich auf Spanisch veröffentlicht: “La gran traición”. Javier Cercas. El País.

16. Juni 2019

Für separatistische Politiker sind nur diejenigen Katalanen, die treu zum Vaterland stehen und das wählen, was man zu wählen hat. Die anderen zählen nicht.

In einem der Berichte über das Strafverfahren gegen die katalanische  Unabhängigkeitsbewegung, die in dieser Zeitung erscheinen, erzählt Pablo Ordaz, wie Separatisten im Zeugenstand „sich mit der größten Selbstverständlichkeit zu Vertretern des gesamten Volkes erheben“: „Auch wenn die Wahlergebnisse ein ums andere Mal zeigen, dass die Unabhängigkeitsbefürworter nicht in der Mehrheit sind, schafft es das Narrativ der Zeugen, die andere Hälfte unsichtbar zu machen.“ Und er schlussfolgert: „Die Unabhängigkeitsbewegung schafft es, jeden Tag den Plenarsaal eines Teils Kataloniens zu füllen, der sich für das Ganze hält.“

Das ist die Frage. Die zentrale Übereinkunft des demokratischen Kataloniens fasste dessen Erzvater, Jordi Pujol, so zusammen: „Ein Katalane ist jeder, der in Katalonien lebt und arbeitet.“ Daran glaubten Hunderttausende von Emigranten, die nach dem Bürgerkrieg aus allen Teilen Spanien dorthin gekommen waren – in ihrer überwältigenden Mehrheit aus sehr einfachen Verhältnissen. Auch meine Eltern glaubten daran und zogen ihre Kinder entsprechend groß. Es stimmt, dass meine Mutter, die mit über 30 Jahren, fünf Kindern und nahezu ohne Schulbildung eintraf, nicht Katalanisch spricht und deshalb eine der Personen ist, die der derzeitige Chef der katalanischen Regierung, Quim Torra, in einem denkwürdigen Artikel „Aasfresser, Skorpione, Hyänen“ nannte und „wilde Tiere mit menschlichem Angesicht“. Meine Schwestern und ich sind aber nicht wie sie. Wir leben und arbeiten nicht nur in Katalonien, sondern nahmen auch die katalanischen Gewohnheiten an, tauchten in die katalanische Kultur ein, lernten Katalanisch, so dass wir zweisprachig wurden, heirateten waschechte Katalanen, erzogen unsere Kinder auf Katalanisch und trugen sogar mit einem winzigen Sandkorn dazu bei, die katalanische Kultur zu verbreiten. Alles umsonst.

Auch wenn wir bis zum Schluss alles Mögliche taten, um weiterhin zu glauben, dass wir Katalanen seien, wurde uns im September und Oktober des Jahres 2017 zweifelsfrei klar, dass wir dies nicht waren. Katalane, das, was sie Katalane nennen, war nur noch jemand, der wollte, dass Katalonien sich von Spanien loslöst; wer das nicht wollte, sei es aus sentimentaler Zuneigung zu Spanien oder weil er, wie ich, vollkommen unfähig war, die Vorteile der Trennung zu erkennen und diese für eine reaktionäre, ungerechte und unsolidarische  Angelegenheit hielt, zählte nicht als Katalane, zumindest für die separatistischen Politiker.

Der offenkundige Beweis dafür ist, dass diese Politiker planmäßig und konsequent im Namen Kataloniens sprechen und das Problem Kataloniens als eines zwischen Katalonien und Spanien einstufen und nicht als das, was es ist: ein Problem zwischen Katalanen, von denen mehr als die Hälfte bei allen erdenklichen Wahlen aktiv und passiv ein ums andere Mal gesagt hat, dass wir die Trennung nicht wollen.  Deshalb ist der Nationalismus mit der Demokratie nicht vereinbar, denn wenn es darum geht, zwischen der Demokratie und der Nation zu wählen, wählt dieser immer die Nation.

Für die separatistischen Politiker, die die Macht ausüben, sind Katalanen nicht diejenigen, die in Katalonien leben und arbeiten wie wir, sondern nur die, die außerdem gute Katalanen sind, treu zu ihrem Vaterland stehen und wählen, was man zu wählen hat. Die anderen wie wir sind keine Katalanen, wir existieren nicht,  und – fort mit allen Illusionen! – wahrscheinlich waren wir dies auch nie, haben niemals gezählt, niemals existiert. Das verbarg sich wohl hinter den einmütigen Parolen der Unabhängigkeitsbewegung („Un sol poble“, „Els carrers seran sempre nostres“/„Ein einzig Volk“, „Die Straßen werden für immer unser sein“), den geordneten Demonstrationen an jedem 11. September und dem Lächeln der Revolution des Lächelns: ein ungeheurer Verrat.

Das Wort ist hart, doch es gibt kein anderes: Wir haben uns loyal an die Übereinkunft gehalten, die das demokratische Katalonien begründete, die Separatisten nicht. Soviel ich weiß, hat keiner von ihnen um Entschuldigung gebeten, und ich weiß nicht, ob einer den Mut dazu aufbringen wird. Was bedeutet, dass sie wieder die Nation über die Demokratie stellen werden, sobald sie dazu in der Lage sind, es sei denn, die Demokratie hindert sie daran. Mich freut, dass mein Vater dies nicht mehr erleben muss und dass meine Mutter es kaum versteht. Im Übrigen müsste ich lügen, würde ich nicht hinzufügen, dass mein Grundgefühl derzeit eine Mischung aus Ungläubigkeit, Kränkung, Ekel und Scham ist und dass ich mich zuweilen frage, ob all das nicht nur ein ungeheurer Verrat gewesen ist, sondern seit ich mit vier Jahren nach Katalonien kam und mein Vater mir am ersten Tag sagte, dass ich von nun an Katalane wäre, und den ersten Satz auf Katalanisch beibrachte („M’agrada molt anar al col.legi“/Es macht mir großen Spaß, in die Schule zu gehen), auch ein unermesslicher Betrug.

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