Ursprünglich auf Spanisch veröffentlicht: “Hay que decir el pecado y el pecador”. Tsevan Rabtan. El Mundo.
Madrid, 21 April 2019
Nach der ersten Hälfte des Prozesses gibt es Angeklagte, die einige Leben verloren haben, aber nicht alle
In Immer Ärger mit Harry, dem eigentümlichen Film von Hitchcock, glauben alle Figuren, sie hätten einen Nachbarn umgebracht, und sind damit beschäftigt, seinen Leichnam mehrmals ein- und auszugraben, um nicht entdeckt zu werden, bis sich herausstellt, dass der gute Mann an Herzversagen gestorben ist. Es handelt sich um eine Komödie, weil die Normalwelt auf den Kopf gestellt ist: Die „Schuldigen“ an einem nicht existierenden Verbrechen bemühen sich, dieses zu vertuschen.
Da ein Strafverfahren keine Komödie ist, ist seine Logik eine andere. Der Zähler wird auf Null zurückgesetzt, und die Angeklagten haben –wie die sprichwörtliche Katze– eine Reihe von Leben, die sie erst verlieren müssen, bevor man sie verurteilen kann. Zu Beginn müssen die Vertreter der Anklage beweisen, dass Taten vorhanden sind, die laut Gesetz strafbewehrt sind. Danach, dass diese Taten jemandem zugeordnet werden können, der sie unmittelbar verübte oder in bedeutsamer Weise daran beteiligt war, dann, dass er eine Form der Herrschaft über sie hatte oder jemanden dazu anstiftete, sie zu verüben. Schließlich, dass jede dieser Taten freiwillig begangen wurde und dass der Täter den Vorsatz hatte, das zu tun, was er tat.
Die logische Reihenfolge in den Anklageschriften wird nicht unbedingt von der Erhebung der Beweismittel widergespiegelt, und das Verschieben der Puzzleteile, das manchmal wiederholt erfolgt, um Unklarheiten zu beseitigen, die dem Angeklagten zugutekommen, kann am Anfang den Eindruck eines Chaos hervorrufen. In diesem Prozess gab es so etwas wie offenkundige Tatbestände, die leicht zu beweisen waren: z. B. Verhaltensweisen, die eine Zuwiderhandlung darstellten. Doch für den Rest war sehr viel mehr Beweismaterial erforderlich.
Nach der ersten Hälfte des Prozesses gibt es Angeklagte, die einige Leben verloren haben, aber nicht alle. Ich werde dies anhand des Anklagepunkts der Rebellion deutlich machen. Später wird noch genügend Zeit sein, um von den anderen Straftaten zu sprechen. Die Vertreter der Anklage behaupten, dass ein Plan verabredet wurde, der auf die Abspaltung Kataloniens zielte, wobei Gewalt als Mittel billigend in Kauf genommen wurde, um ein verbotenes Referendum durchzuführen, das wie ein Ein- und Ausschalter gedacht war. Diesem Plan zufolge sollten die verfassungswidrigen Gesetze und die Stellungnahmen, die diese rechtfertigen, der Pseudolegitimation dienen, das wesentliche und unverzichtbare Element aber würde im Vollzug einer angeblich demokratischen Handlung bestehen. Die Strategie versprach Erfolg: Ohne Widerstand würde sich der Kreis schließen. Bei Widerstand und legitimer Gewaltanwendung seitens des Staates könnte man im Idealfall sagen, Menschen seien einer Verfolgung zum Opfer gefallen und Menschenrechte seien verletzt worden, was als Ersatz für das eigentliche Referendum dienen könnte. Und im schlechtesten Fall würde das Referendum doch noch stattfinden und zeigen, wie autoritär und zugleich machtlos der Staat sei. Die Vertreter der Anklage werden zur Stützung dieser Version sowohl die einzelnen Puzzleteile, als auch die Erläuterungen derjenigen nutzen, die diese zu beschaffen hatten.
Was die Puzzleteile betrifft, so steigt ihre Zahl weiterhin an. Mehr als 50 Polizeimeister und -obermeister, Unterinspektoren und Inspektoren des Nationalen Polizeikorps haben in dieser zehnten Woche ausgesagt und das Bild bezüglich der Schulen [der Wahllokale] weiter vervollständigt – zum Nachteil der Angeklagten. So wurden zahlreiche neue Fälle von organisiertem Widerstand gegen die spanische Polizei bekannt: die „Verteidigung“ der Wahllokale, die Anwendung von Gewalt und die Tatenlosigkeit der katalanischen Polizei, der Mossos. Diese kommen nicht aus ihrem Tief heraus, und die Beispiele häufen sich: Einige wurden ausdrücklich gebeten, als Vermittler aufzutreten, lehnten dies aber nach einem Besuch ihrer Vorgesetzten ab; andere beobachteten eine Auseinandersetzung zwischen etwa zehn Personen und Angehörigen des Nationalen Polizeikorps, die versuchten, Barrikaden zu beseitigen und dabei schließlich verletzt wurden, schritten aber nicht ein. Außerdem hat –entsprechend meiner Vorhersage–, der Nachdruck, den die Verteidigung gleich zu Beginn auf das Verhalten der spanischen Polizei als mögliche Ursache der Gewalt legte –in dieser Phase des Prozesses vollkommen sinnlos–, nur dazu geführt, dass die Staatsanwälte von sich aus diese Elemente in ihre Fragen einbauen, sie also keineswegs scheuen, sondern für ihre Strategie nutzen, das Gericht davon zu überzeugen, dass sie den Widerstand [der Unabhängigkeitsbefürworter am Tag des illegalen Referendums] deutlich machen, was es ihnen, den Staatsanwälten, gestatten wird, zumindest den Tatbestand des Aufruhrs als bewiesen anzusehen. Ich glaube, dass sich die Verteidiger aus diesem Grund schließlich für ein immer niedrigeres Profil entschieden haben und dass sie –obwohl sie noch bemüht sind, Informationen zu erhalten, mit denen sie die Zeugenaussagen in Zweifel ziehen können, wenn wir die Videos sehen–, allmählich zu der Einschätzung gelangen, dass sich dieser Teil nicht länger auszahlt.
Was diejenigen betrifft, die dafür verantwortlich sind, die Puzzleteile herbeizuschaffen, so sorgen sie dadurch, dass sie erklären, worauf ihre Untersuchungen zielten und welche Konzepte ihnen zugrunde lagen, dafür, dass ihre Erklärungen einem Gerichtsverfahren entsprechen und Berichte von Geheimdiensten vermieden werden, jenem Mittel, das so oft missbräuchlich zum Einsatz kommt und Richter durch Schlussfolgerungen der Polizei ersetzt. Was etwa bei dem Hauptmann der Guardia Civil der Fall war, der diese Woche aussagte. Seine Erklärung brachte die Vertreter der Anklage besonders in Bezug auf bestimmte Fragen voran.
So zum Beispiel folgende: die Bedeutung der parallelen Gesetzgebung; die Erzeugung von Spannungen als Mittel, das genutzt wurde oder auch nicht, je nachdem, wie der Staat reagierte; die Betonung der meines Erachtens immer wichtigeren Äußerungen der Führung der Mossos nach dem 1. Oktober (z. B. die Traperos [des Chefs der katalanischen Polizei], der die „ausgezeichnete Arbeit“ seines Korps lobte und bekräftigte, „man kann uns das Was aufzwingen, aber über das Wie bestimmen wir“), oder der Äußerungen vom 13. Oktober, die wir bereits in einem früheren Artikel untersucht haben; oder der Erklärungen, die sich auf konkrete im Lauf des Verfahrens auftauchende Fragen bezogen, z. B. die Abwesenheit Traperos bei den Koordinationstreffen nicht wegen persönlicher Schwierigkeiten mit [dem Obersten der Guardia Civil] Pérez de los Cobos, sondern als Schutzmaßnahme (was sich in einer E-Mail von [Kulturminister] Puig an [Innenminister] Forn andeutet, in der es heißt, dass sie Trapero „verlieren“ könnten, sollte er gezwungen sein, wegen seiner Anwesenheit bei diesen Treffen für oder gegen die Zuwiderhandlung zu stimmen).
Ich komme zu den sieben Leben zurück. Beispielsweise denen des [Vorsitzenden der Aktivistenbewegung ANC] Jordi Sànchez. Das „Konzept“ des Zeugen wurde durch die ausgezeichnete und präzise Gegenbefragung seiner Verteidigerin, Ana Bernaola, untergraben, die ernsthafte Zweifel daran aufkommen ließ, ob das Beweismaterial genug Substanz enthält, um ihrem Klienten eine Verantwortung zuzuweisen: Man kann ihm keine Verbindung mit den CDR [„Komitees zur Verteidigung der Republik“], den escoles obertes [„offene Schulen“] oder den talleres de resistencia [„Werkstätten des Widerstands“] nachweisen, vor allem weil die stärksten Beweise aus E-Mails bestehen, die empfangen, aber nicht versandt wurden.
Da wir einem Verfahren und keiner Komödie beiwohnen, zählen Beweise, nicht Verdächte, und eine der Schwächen der Anklage im bisherigen Verfahren ist –neben den Vorgängen vom 20. September– jene, die die Teilnahme der Vorsitzenden von ANC und Òmnium betrifft.