Ursprünglich auf Spanisch veröffentlicht: “Una conspiración a pleno sol”. Daniel Gascón. Tinta Libre. Nº66. Febrero 2019
Die Ereignisse, die im Oktober 2017 in Katalonien stattfanden, stellten etwas Neues und etwas Altes dar. Am 6. und 7. September verabschiedete das katalanische Parlament das Überganggesetz und das Referendumgesetz. Das tat es mit einer knappen Mehrheit an Sitzen, die nicht der Mehrheit der Stimmen entsprach. Sie hätte nicht genügt, um weniger grundlegende Rechtsnormen abzuwandeln, wurde aber als ausreichend betrachtet, um eine Verfassungsänderung herbeizuführen. Diese Mehrheit ignorierte den Rat der Rechtsgelehrten der Kammer, verstieß gegen die Satzung des Parlaments, die Verfassung der katalanischen Autonomie und die Verfassung des spanischen Königreichs und verletzte die Rechte der Opposition. Es handelte sich um einen Staatsstreich gemäß der Definition von Kelsen: den Übergang von einer politischen Ordnung zu einer anderen, die im Gesetzgebungsrecht nicht vorgesehen ist.
Neuartig dabei war nicht, dass Institutionen des Staates gegen den eigenen Staat zum Einsatz kamen. Vielleicht war die einzige Merkwürdigkeit, dass es nicht notwendig war, die staatlichen Kommunikationsmittel zu besetzen, weil sie letztendlich schon im Dienst des Unabhängigkeitskampfes standen. Es war nicht der tragischste Moment in der Geschichte der spanischen Demokratie, aber durchaus einer der beunruhigendsten. Wir alle kennen die Fakten: die Unruhen vom 20. September, das Pseudoreferendum vom 1. Oktober (abgehalten ohne demokratische Garantien und begleitet vom ungeschickten Vorgehen der Sicherheitskräfte nach der Illoyalität der autonomen katalanischen Polizei), die Gefahr einer Auseinandersetzung, das Formulieren und Sichtbarmachen einer positiven Haltung zur spanischen Verfassung auf der Demonstration vom 8. Oktober, eine Unabhängigkeitserklärung, die nach acht Sekunden aufgehoben wurde. Diese Unabhängigkeitserklärung zog die Aktivierung des Art. 155 der spanischen Verfassung, die sofortige Ankündigung von Regionalwahlen, die Untersuchungshaft einiger Führer der Unabhängigkeitsbewegung und die Flucht anderer wie Carles Puigdemont und Toni Comín nach sich.
Aber es gab auch eine Abweichung. Ein Unterschied war, dass man nicht wusste, ob sie ernst oder als Scherz gemeint war: eine Unabhängigkeit à la Schrödinger, eine Sezession nach Art der Quantenphysik. Sollte sie misslingen, wäre sie nur Prahlerei, ein Sprechakt, ein Verhandlungsmittel, eine Bekundung der Meinungsfreiheit, ein Anzeichen für zivilen Ungehorsam. Sollte sie gelingen, wäre sie eine vollendete Tatsache. Eine weitere Besonderheit war die Rolle der Gewalt. Ein Argument des Separatismus war, dass es sich um eine volksnahe und friedliche Bewegung handele. Das erste war fraglich, da, wie Guillem Martínez und Jordi Amat dargestellt haben, einer seiner Beweggründe die Suche der herkömmlichen nationalistischen Eliten nach einem Rettungsweg angesichts einer Welle von Politikverdrossenheit und Korruptionsfällen war; das zweite ebenfalls. Die Originalität bestand darin zu versuchen, dass der Gegner (der spanische Staat) es wäre, der Gewalt anwendet. Sollte der spanische Staat mit massivem Druck auf etwas reagieren, das sich als demokratische Forderung präsentierte (auch wenn es eine illiberale und plebiszitäre Demokratie wäre), würde die öffentliche Meinung in und außerhalb Spaniens dies nicht tolerieren. Der Separatismus bediente sich der Leere so wie Pablo Gargallo bei seiner Skulptur Der Prophet. Um diese Wirkung zu erzielen, war eine Strategie erforderlich, die Spannungszustände erzeugt. Dessen waren sich die Führer der Separatisten bewusst: Die katalanischen Sicherheitskräfte machten sie auf die Gefahr aufmerksam. Da sie Menschen von außerordentlich großer Vorstellungskraft sind, wäre es auch seltsam, wenn sie nicht noch andere Risiken für die Gesellschaft bedacht hätten. Zudem wissen wir, was danach geschah: Die einseitige und illegale Form [der Unabhängigkeitserklärung] zeugte von einem Missverständnis gegenüber dem spanischen Staat (der andere Verhaltensweisen zeigt, sowohl im Inneren, als auch im Rahmen einer Ordnung, die auf der Legalität und der Macht der Staaten fußt), gegenüber dem Markt (der Instabilität ablehnt) und gegenüber der Identität (wenn du diese Politik bei deinen Anhängern in Gang setzt, können deine Gegenspieler sich auch um ihre [Identität] herum zusammenschließen), und sie schlug fehl. Wird von Repression gesprochen, steckt darin ein Teil Blauäugigkeit und ein Teil Zynismus. Es ist eigenartig zu glauben, dass der spanische Rechtsstaat nicht von seiner eigenen Legitimität überzeugt wäre und diese nicht verteidigen würde. Und selbstverständlich ist der Staat viele Dinge auf einmal: ein Solidarpakt in einem bestimmten Gebiet und zwischen den Generationen, ein großes Versicherungsunternehmen, aber auch ein Unterdrückungsapparat. Die Unabhängigkeitsbefürworter wussten dies: Das war einer der Gründe, warum sie ihren Staat wollten.
Diese Verbindung von Bruch des Rechts und Fehlen offener Gewalt erschwert die Einordnung. Ich habe es einen postmodernen Putsch genannt, Santos Juliá hat gesagt, die Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober sei ein „ziviler Staatstreich“ gewesen, Ignacio Sánchez-Cuenca sprach lieber von einer „Verfassungskrise“. Oder man wird, wie Rafael Latorre schrieb, wohl tausend Eide schwören müssen, dass all dies wirklich geschehen ist. Es scheint, als habe dieses Problem teilweise auch bei der Einschätzung des strafrechtlichen Charakters eine Rolle gespielt. Bei der Einleitung des Verfahrens klagte Richter Llarena zwanzig Personen wegen der Straftaten der Rebellion, der Zuwiderhandlung und der Veruntreuung an. Laut Art. 472 des Strafgesetzbuches liegt die Straftat der Rebellion „bei denen vor, die sich gewaltsam und öffentlich mit irgendeinem“ einer Reihe von Zielen „erheben“, darunter die Erklärung der Unabhängigkeit eines Teiles des nationalen Territoriums. Einige sehen die Anklage wegen Rebellion kritisch, sie führen an, die Frage der Gewalt sei mit so vielen Unklarheiten behaftet, dass die Verteidigung sie erfolgreich anfechten könne. Der Beschluss [des Ermittlungsrichters], so erklärte Tsevan Rabtan, führt eine neuartige und mühsame Unterscheidung zwischen einem Handeln mit Gewalt und einem gewalttätigen Handeln ein: Im ersten Fall sei es erforderlich, dass sich die Gewalt gegen Personen wendet, im zweiten Fall sei dies nicht notwendig.
Der Strafrechtslehrer Enrique Gimbernat, der die Anklage wegen Rebellion anfänglich kritisiert hatte, begründete seine Meinungsänderung wie folgt:
„Laut § 472 Nr. 5 [Strafgesetzbuch] erfüllt nicht nur ‚die Erklärung der Unabhängigkeit‘ mittels einer gewaltsamen und öffentlichen Erhebung den Tatbestand der Rebellion, sondern es reicht aus, dass eine solche Erhebung mit dem ‚Ziel‘ erfolgt, sie zu erklären, und genau das geschah am 1. Oktober: Denn die gewalttätigen Aktionen, die sich an diesem Tag in Katalonien abspielten, hatten tatsächlich nicht zum ‚Ziel‘, dem Referendum um des Referendums willen zuzustimmen, sondern die Unabhängigkeit zu ‚erklären‘, was zur unverzichtbaren Voraussetzung hatte, dass die Option der Separatisten in der vorhergehenden Volksbefragung siegreich wäre, da gemäß § 4 Abs. 2 des verfassungswidrigen katalanischen Referendumgesetzes‚ ‚das Parlament innerhalb von zwei Tagen nach der Verkündung der amtlichen Ergebnisse durch die Wahlbehörde zur formalen Verkündigung der Unabhängigkeit Kataloniens schreiten wird.‘ “
Für einige führt das Gesetz zu einer gewissen Schutzlosigkeit. Beim Abfassen des Paragraphen bestanden einige Gruppen darauf, die Gewalt ausdrücklich mit aufzuführen; für andere war im Begriff des Aufstandes die Gewalt bereits enthalten. Eine Folge davon –darauf hatte schon González Pons bei der Behandlung des Gesetzes im Senat hingewiesen– ist die Schutzlosigkeit gegenüber einem Staatsstreich von oben. Noch bevor er Ministerpräsident wurde, erklärte Pedro Sánchez, dass man die Beschreibung des Tatbestandes der Rebellion verändern müsse, um ihn den neuen Zeiten anzupassen.
Die technischen Schwierigkeiten, ein Phänomen zu beurteilen, das es vorher nicht gegeben hat, gesellen sich zu einer Lage, die politisch und emotional höchst aufgeladen ist. Hier spielen Maßnahmen wie die Untersuchungshaft eine Rolle: Sie mögen gerechtfertigt sein und haben vielleicht als Warnung gedient (trotz seiner Tiraden hat Torra es nicht gewagt, das Gesetz zu brechen), aber sie sind umstritten und begünstigen die irreführende Diskussion über „politische Gefangene“. Die Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens, welche die Regierung stellt, hat versucht, die Spannungen abzubauen. Das ist eine riskante Strategie, die sie von ihren alten Verbündeten und Teilen ihrer Wähler in ganz Spanien entfernt. Sie ist nur gerechtfertigt, wenn sie Erfolg hat. Sie stößt bei Quim Torra normalerweise auf schroffe Ablehnung, hat aber dazu beigetragen, die Unabhängigkeitsbewegung zu spalten, wobei die Unterschiede darin bestehen, bis zu welchem Grad die Wirklichkeit anerkannt wird. Der Separatismus weiß, dass die Strategie der einseitigen Unabhängigkeitserklärung gescheitert ist. Nun sind die inhaftierten Politiker ein Element der Mobilisierung. Das Referendum hat – worauf Jordi Juan und Jorge San Miguel hinwiesen– als MacGuffin der Unabhängigkeit ausgedient, die Forderung ist jetzt eine begrenztere. Vielleicht spielt auch das schlechte Gewissen mit hinein: Die Inhaftierten bezahlen für etwas (und sie haben schon teuer dafür gezahlt, mit Freiheitsentzug z.B.), das viele andere auch taten und glauben machten. Doch im Moment scheint niemand das politische Kapital oder den Führungswillen zu besitzen, um ein Held des Rückzuges zu werden. Einer könnte das wahrscheinlich tun, und zwar die Republikanische Linke, die zudem über mehr Legitimität verfügt. Ihr Separatismus kam nicht plötzlich und unerwartet wie derjenige des bürgerlichen Nationalismus. Ihre Führer warten lieber einen günstigeren Moment ab. Sie nennen es Mäßigung, aber man sollte besser von Geduld sprechen.
Die Parteien Ciudadanos [„Bürger“] und Partido Popular [„Volkspartei“] unterstützen härtere Positionen gegenüber dem Separatismus; die katalanische Frage hat eine extreme Rechte ins [andalusische] Parlament katapultiert, die gegen autonome Regionen in Spanien ist. Ein Teil des Katalanismus möchte zurück in eine Welt, die niemals wiederkehren wird: Der Konsens der 70er und 80er Jahre ist zerbrochen, und es scheint unmöglich, dass er sich wieder einstellt, so angenehm dies auch wäre.
In Spanien gibt es Gewaltenteilung und einen konservativen Richterstand. Gleichzeitig betrifft der Ansehensverlust vieler Institutionen und Mediatoren [mediadores] auch die Justiz. Die Politiker –die Querverbindungen zwischen den staatlichen Gewalten andeuten– und die Medien –die alle bereitwillig jede noch so haltlose Empörung aufgreifen und verstärken– tragen dazu bei, diese Trennlinien zu verwischen. Und die Urteilsverkündung wird in einem Klima der sprachlichen Inflation und Propaganda erfolgen, einem neuen Kampf um die Erzählung, in dem wir alle besorgt auf das warten, was die Auslandspresse sagt, die das wiederholen wird, was wir sagen.
In Woody, der Unglücksrabe versucht Virgil Starkwell, der von Woody Allen gespielt wird, aus dem Gefängnis zu fliehen, indem er zwei Gefängnisangestellte mit einer Pistole bedroht, die aus einem Stück Seife hergestellt ist. Als es anfängt zu regnen, steht Starkwell nur noch mit viel Schaum in der Hand da. Eine der jetzt geführten Diskussionen ist, ob die Führer der Unabhängigkeitsbewegung wussten, dass ihre Ziele unerreichbar waren, oder nicht. Oriol Güell zog in einem kürzlich erschienenen Artikel den Schluss, sie hätten gewusst, dass sie ihre Ziele nicht erreichen konnten. In anderen Fällen scheint es – von den Erklärungen und Gesten her zu urteilen–, dass mehr als einer an die eigene Propaganda glaubte, und vielleicht könnte jemand die Frage aufwerfen, ob nicht die Aufrichtigkeit bei einer Straftat entscheidend ist.
Was der Beschluss des Ermittlungsrichters zeigt und in Reportagen wie Der Schiffbruch von Lola García oder Der katalanische Wirbelsturm von Sandrine Morel geschildert wurde, ist, dass der Unabhängigkeitsprozess –um einen Ausdruck von Alexander Koyré zu benutzen– eine Verschwörung am hellichten Tag war. Jahrelang forderten die Führer der Unabhängigkeitsbewegung den spanischen Staat heraus, ignorierten sie die Warnungen der Juristen und schufen Institutionen und gesetzliche Regelungen, die auf den Bruch [der territorialen Einheit Spaniens] gerichtet waren. Sie wischten andere Visionen der Identität beiseite und lähmten den politischen Katalanismus, indem sie eine Strategie der Polarisierung verfolgten, die der katalanischen Gesellschaft Schäden zugefügt hat, die nur mit viel Zeit, Großmut und einem ehrlichen Respekt gegenüber denen, die anderer Meinung sind, behoben werden können.