Auf Deutsch Voices From Spain

Konstitutionelle Demokratie und Abspaltungsreferendum in Katalonien (III, IV)

Ursprünglich auf Spanisch veröffentlicht. Manuel Toscano. JotDown.

III

Die vorherige Debatte dreht sich grob gesagt, um die Zuschreibungs- und plebiszitäre Theorien der Abtrennung/ Abspaltung. Es gibt auch eine dritte Form die Abspaltung zu rechtfertigen. Nach dieser Theorie kann die Abspaltung moralisch rechtfertigt werden, wenn diese die einzige Abhilfe aufgrund einer schweren Ungerechtigkeit ist. Diese Theorie bezeichnet man auch als „Theorie des gerechten Grunds“. Diese Rechtfertigungslinie nähert sich an die strikten Bedingungen des internationalen Rechts, das heißt kolonialähnliche Verhältnisse, Unterwerfung oder Unterdrückung durch fremde Mächte. Diese Ungerechtigkeiten müssen auch massive, schwerwiegende und verbreitete Grundrechtverletzungen der betroffenen Bevölkerung verursacht haben. Hinzu kommt die zweite Bedingung, die verlangt, dass die Abspaltung die einzige Form darstellt, diese schwerwiegenden und systematischen Grundrechtsverletzungen der betroffenen Bevölkerung zu beenden.  

In den letzten Monaten, wenn nicht Jahre, haben wir gesehen wie die Vertreter des Abspaltungsreferendums sich schamlos auf alle mögliche Rechtfertigungsgründe gleichzeitig berufen, wobei diese kombiniert oder abgewechselt werden. Die Selbstbestimmung sei eine demokratische Forderung, das Recht der katalanischen Nation und auch die Art und Weise die Ausbeutung und Unterdrückung des Spanischen Staates auf die Katalanen zu verhindern. Diese letzte Rechtfertigungsstrategie wird immer stärker oder schriller. Wir hören seit Jahren Aussagen wie „Spanien raubt uns“ oder die „steuerliche Misshandlung“ von Katalonien. Wie erwartet, in den letzten Wochen sind die Stimmen, welche mit einer falschen Dramaturgie sämtliche Verletzungen und Ungerechtigkeiten anzeigen immer lauter geworden, insbesondere um die internationale öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Sprecher der Unabhängigkeit wissen sehr gut, dass weder die plebiszitäre noch die nationalistische Rechtfertigung die Sympathie oder das Verständnis der internationalen Presse oder des Publikums anderer Länder hervorrufen werden. Demnach müssen sie auf den gerechten Grund greifen. Wenn sie die Abspaltung mit den Argumenten des gerechten Grunds vorantreiben wollen, dann müssen sie beweisen, dass die Katalanen unter schwerer Ungerechtigkeit und Grundrechtverletzungen durch den spanischen Staat leiden.  

Dieses trifft jedoch ein wichtiges Hindernis: Spanien ist ein demokratischer und sozialer Rechtstaat. Die Verfassung und Rechtsordnung garantieren alle Bürger und ohne Diskriminierungen ein sehr weiter Grundrechtkatalog. Spanien hat die große Völkerrechtsabkommen über Grundrechte sowie die Europäische Grundrechtscharta unterzeichnet und gehört zur Europäischen Union und zum Europarat.

Aus diesem Grund haben die Vertreter der Abspaltung sämtliche Vorwürfe, Verdächtigungen und Disqualifizierungen über dem Autoritarismus, des spanischen Staates, fehlende Freiheiten, oder die Kontinuität der parlamentarischen Monarchie nach den Franquismus als Argument verwendet. Wir können in den Social Media alles Mögliche sehen, Vergleiche zu den Sklaven der Südstaaten, den verfolgten Juden, Bilder von Tiananmen. Sogar Mas vergleicht sich selbst mit Mandela und Martin Luther King. Ich befürchte, dass wir in den nächsten Tagen dieses aus den genannten Gründen nicht aufhören wird und dass wir noch Schlimmeres hören werden.  

Der Text von Carles Boix (veröffentlicht in Jot Down) beruft sich auch auf die Theorie des gerechten Grunds, sodass zu begrüßen ist, dass er einen gemäßen Ton in seiner Verteidigung des Referendums am 1.10 verwendet. Erstens, er versichert, dass Spanien als nationaler Staat gescheitert ist. Die Folge des Scheiterns sind eine „Gruppe von unglücklichen Länder in der Iberischen Halbinsel“ (sic). Der Verfassungspakt vom 1978 machte die Tür der Hoffnung auf eine Reparatur des Unglücks auf. Dieser Weg scheiterte im Jahr 2010 mit dem Urteil vom Verfassungsgericht über das katalanische Statut. Sogar diese Reform mit einem asymmetrischen Föderalismus würde auch scheitern. Die Schlussfolgerung ist offensichtlich: Den Katalanen, eine schwache und unterdrückte Minderheit im spanischen Staat, bleibt nur die Ausübung des Selbstbestimmungsrecht als Ausgang aus diese ungerechte Lage übrig.

Es ist ersichtlich, dass die Argumente von Boix sehr gut zum Konzept des gerechten Grunds passen. Fraglich ist, ob diese überzeugen, da man den Eindruck hat, dass alles gezwungen wird, um die gewünschte Schlussfolgerung zu erreichen. Komplexe und umstrittene Fragen werden in kategorische und einseitige Sätze und an verschiedene Stellen ohne Begründung reduziert.

Schlimmer ist es, dass die historische Erzählung von einem manichäischen Hauch geprägt wird. So wird eine Geschichte von Guten und Bösen, Unterdrücker und unterdrückten dargestellt. Ich befürchte diesen manichäischen Hauch wird von den Leitlinien des gerechten Grunds verlangt. Besonders verwirrend scheint, dass die Darstellung auf Kollektiven mit Wille, Gefühle und Persönlichkeit beruht („Katalonien konnte sich nicht durchsetzen“, „sie konnte sich als Spanierin nicht bequem fühlen“). Dabei werden Ausdrücke wie glücklich und unglücklich verwendet. Man könnte argumentieren, dass es sich um eine Redeweise handelt, eine Abkürzung aber diese Ausdruckweise hat Folgen die hervorgerufen werden sollten. Um es auf dem Punkt zu bringen, je weiter ich den Text las, desto klarer wurde die sozial nationale Ontologie der Argumentierung. Dieses wäre relevant, wenn zum Schluss das Argument des gerechten Grunds auf nationalistische Vorstellungen beruhen würde.

Ich werde die grob dargestellten historischen Anmerkungen nicht im Detail behandeln. Zum Glück beruft sich der Autor nicht auf das Jahr 1714 wie andere die einen Erbfolgekrieg um den spanischen Tron als einen nationalen Befreiungskrieg darstellen. Die Darstellung der These um das Scheitern Spaniens scheint aber bemerkenswert: „Spanien hat das hegelianischen Ende der Geschichte nicht erreicht“. Wer nicht Hegelianer ist und nicht an das Ende der Geschichte glaubt, kann dieses Scheitern in Frage stellen. Die Beschreibung des behaupteten Endes („eine nationale Gemeinschaft ohne Risse und unter einem von der gesamten Bevölkerung akzeptierten und legitimen Staat“) lässt die Zweifel an der Argumentierung unberührt. Die Pinselstriche mit dem diese Schlussfolgerung untermauert werden scheinen zudem äußerst grob zu sein.  

 

Er hält zum Beispiel fest, dass „das Spanien der kastilisch-andalusischen Mutter nicht in der Lage war, eine französische Lösung durchzusetzen“: Als Grund nennt er einfach „das Scheitern der liberalen Revolution in Spanien“. Solche Feststellungen ignorieren zum Beispiel die Abenteuer des spanischen Liberalismus oder der historischen Erfahrung der Restaurationszeit. Es ist klar, dass eine schwarz-weiße Darstellung durch Pinselstriche hier und da interessanter ist. Frankreich hatte als Zentralstaat Erfolg, weil „Paris das Midi als Gleiches behandelte“. Dann unterstellt er, dass Madrid dieses nie mit Katalonien gemacht hat, weil es sich immer um eine Dominationsbeziehung gehandelt hat. Die Macht der Waffen reiche nie aus, um ein einziges Volk mit einem nationalen Gefühl zu schmieden. Somit legt er nahe, dass die Beziehung zu Katalonien immer mit der Macht der Waffen und der Unterdrückung gehalten wurde. Die Regierung in Madrid wird ohne weiteres in dieser Linie als eine „reaktionäre antiliberale Elite“ dargestellt. Der Leser soll bitte beurteilen, ob dieses nicht eine manipulierte und vereinfachte Vision der Geschichte ist.  

Für mich ist die Einleitung der Hauptcharaktere in die Erzählung wichtig. Eine „Gruppe von unglücklichen Länder“, die nicht in der Lage sind, eine minimale brüderliche Beziehung zu halten, mit „unterschiedlichen nationalen Persönlichkeiten und abweichende politische Projekte“. Zusammenfassend, eine bequeme Mehrheit mit der Idee eines einheitlichen Spanien und eine Minderheit-Katalonien- die um das Überleben einer kulturellen und politischen Nation“ kämpft. Diese Beziehung ist unglücklich, Unterwerfung und unter Nichtgleichen und dieses wird führt zur Anwendung der hegelianischen Dialektik des Herren und des Sklaven, um die Beziehung zu analysieren.

Aber dieses ist eine “Modigliani” Skizze mit nationalistischen Geschmack mit perfekt eingegliederte Bevölkerungen in kompakten unterschiedlichen Dörfer mit klaren Grenzen, jede mit einer differenzierten Identität und Persönlichkeit.

 

Es wird noch schlimmer, wenn diese Völker oder Nationen, Katalonien oder Spanien wie eine Art „metaphysische Tiere“ mit Persönlichkeit, Interessen oder eigene Projekte dargestellt werden. Wenn man die sozial nationalistische Ontologie nicht vertritt, scheint diese Erzählung einfach unglaublich. Die Argumentierung von Boix ernährt sich aus dieser Erzählung, da seiner Meinung nach, die Heilung oder das Ende dieser unglücklichen Beziehung der Kollektiven das Problem sind. Dieses ist aber nicht das Problem.

Diese Problemdarstellung ist nicht ungefährlich. In analytischen Fragen halte ich für intellektuell hygienisch, das Methodenindividualismus zu folgen, um die Versachlichung der sozialen Gruppen, als gäbe es reale Personen oder supraindividuelle Agenten mit eigenen Interessen, zu vermeiden. Ich möchte aber jetzt hervorheben, dass diese Darstellungsart den ideologischen Konflikt und entgegengesetzte Interessen in diesen anscheinend homogenen Gruppen verdeckt. Boix spricht von den Katalanen oder Katalonien als würden sie einen Monolith bilden, alle zusammen mit dem selben politischen Projekt oder mit einer Identität. Somit entgeht er den Hauptfakt der aktuellen politischen Krise (und der Geschichte Kataloniens): die interne Pluralität der katalanischen Gesellschaft. Es ist nicht ein Konflikt zwischen Katalonien und Spanien, wie von den Nationalisten vertreten, da die Trennungslinie zuerst durch die eigene katalanische Gesellschaft verläuft. Diese wird intern durch das Abspaltungsprojekt gespalten. Wenn es noch erforderlich sein sollte, dann hebe ich die leeren Banken der parlamentarischen Opposition als die Abstimmungs- und Übergangsgesetze beschlossen wurden als offensichtlicher Beweis hervor.

Es wird gesagt, dass die Synekdoche die bevorzugte Rhetorikfigur der Nationalisten darstellt. Sie sprechen im Namen aller Katalanen, obwohl sie nur einen Teil vertreten. Leider wird dieses sei es durch Unwissen oder Trägheit von vielen verfolgt. Wir haben es vor einigen Tagen erlebt, als während einer Sitzung im Kongress eine Gruppe von katalanischen Abgeordnete den Saal verließ. Wir konnten danach folgende Sätze und Kommentare lesen: „katalanische Abgeordnete sind gegangen“. Es gibt aber auch katalanische Abgebordnete in der konservativen Partei PP, bei den Sozialisten und in Ciudadanos. Der Text von Boix spielt ständig mit der Synekdoche: In der Beziehung zwischen Katalonien und Spanien werden Teile als Ganzes oder Ganzes als Teile dargestellt. Dabei werden die Katalanen als eine Einheit der Forderungen und Erwartungen eines Teils präsentiert.

Wenn der Leser sich auf das Synekdochen-Spiel von Boix nicht einlässt, dann bricht die Theorie des gerechten Grunds in sich zusammen. Wir werden auf die behauptete Unterdrückungsgeschichte Kataloniens nicht eingehen aber seine Begründung des Scheiterns der Verfassung von 1978 erläutern: Diese ist gescheitert, weil sie nicht „die Gleichheit der Nationen der Halbinsel anerkennt“. Und dieses soll die Gleichheit zwischen Spanien und Katalonien als unterschiedliche Nationen bedeuten. Später erklärt er die große Lektion der demokratischen Zeit nach 1978: die konstitutionelle Struktur Spaniens räumt den Katalanen keinen Platz für Souveränität und lässt die Gleichbehandlung beider Nationen nicht zu. Das grundliegende Unrecht stellt das Argument vom Text: Die nationale Souveränität der Katalanen wird nicht anerkannt. Die argumentierte Ungleichbehandlung ist nichts Weiteres als die existierende zwischen den Nationen. Somit verraten sich die Argumente des gerechten Grunds als eine nationalistische Theorie, nach dem Katalonien ein anderes Volk mit Anspruch auf Selbstbestimmung ist. Somit kann uns nicht wundern, dass er mit der Legitimität der Abstimmung am 1.10 endet. Dieses war schon in den Prämissen vorgesehen.

Viele von uns interessieren sich nicht für das Glück der Nationen oder die Würde des Volkes, wenn dieses überhaupt irgendeine Bedeutung hat. Sämtliche Vereinbarungen oder verfassungsrechtliche Bestimmung sollen das freie Zusammenleben aller Bürger mit gleichen Rechten, und nicht der Völker, im Recht garantieren.

Diese Vereinbarung muss die Pluralität als Grundfakt einer modernen demokratischen Gesellschaft, mit Bürger unterschiedlicher Wertvorstellungen, Philosophische und religiöse widerstreitende Richtungen anerkennen. Dieses inkludiert das Glauben oder Nichtglauben an der Existenz der Nationen. Rawls sagte, dass eine demokratische Gesellschaft nicht als eine Gemeinschaft mit einem gemeinsamen religiösen oder weltlichen Glauben betrachtet werden kann. Die Verfassungsordnung muss das Pluralismus und die Rechte und Freiheiten aller Bürger sicherstellen. Gerade dort finden wir die Garantien der Verfassung verankert, die kein Grund oder Projekt in Gefahr bringen können.

Aus diesem Grund, muss die Rechtfertigung des gerechten Grundes sich nicht auf Verletzungen gegen Nationen stützen, sondern auf den Beweis einer kolonialen Herrschaft oder Ausbeutung einer fremden Macht, und schwere und systematische Grundrechtsverletzungen.

Dieses ist im Verfassungsspanien im Jahr 2017 einfach nicht der Fall. Wenn die Unabhängigkeitswünsche eines Teiles der katalanischen Wählerschaft durch die Verfassung und das Gesetz frustriert werden, dann stellt dieses kein Unrecht zur Rechtfertigung der Abstimmung dar. Andererseits kann dieses die Promiskuität der Rechtfertigungen der Abspaltung und ihrer opportunistischen Verwendung erklären (nationalistische, plebiszitäre oder der gerechte Grund), da man von der einen in die anderen nach der Interessenslage wechselt.  

IV

In einem zeitnahen Kommentar erklärte Miguel Aguilar, dass wenn wir von der katalanischen Frage sprechen, dann sollten wir zwischen zwei Problemen unterscheiden: Ein langfristiges Problem mit der territorialen Organisation des Autonomien- Staates und die Eingliederung Kataloniens. Es handelt sich um ein Problem, dass Zeit und komplizierte Verhandlungen in Anspruch nimmt und mit einer Verfassungsreform abgeschlossen werden könnte. Anfang September wurde hierzu eine Arbeitsgruppe zur Reform des territorialen Modells im Kongress einberufen. Die Sozialistische Partei war der Förderer der Idee, da diese Partei eine noch nicht detaillierte föderale Reform und eine bessere Anerkennung des multinationalen Charakters des Staates verteidigt.

Das technisch komplexe Finanzierungssystem der autonomen Regionen in Spanien, steht somit zur Debatte, zusammen mit dem ewigen Problem der Senatsreform und Entwicklung zur territorialen Kammer. Es stehen auch andere interessante Initiativen der zivilen Gesellschaft zur Debatte, wie zum Beispiel ein Gesetz über offizielle Sprachen verteidigt von Juan Claudio de Ramón und Mercè Vilarrubias. Es gibt viele weitere Verbesserungen des Autonomien Staates die zur Diskussion stehen können. Aber das dringende Problem liegt woanders. Die Regierung der Generalitat und die unterstützenden Parteien haben mit ihrem Projekt die katalanische Gesellschaft gespalten und möchten de facto sowohl Verfassung als auch das Statut außer Kraft setzen. Die Wiederherstellung der Legalität und eine vernünftige und entschlossene Überwachung der Verfassungsordnung stehen im Vordergrund. Der Rechtstaat und die Rechte aller Bürger sind im Spiel.

Bild: Wikimedia Commons.

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